Stereoplay, December 1984

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Stereoplay

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Volksmusik


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   Matthias Inhoffen

In verräucherten Bierpinten ließen britische Rockmusiker Mitte der 70er Jahre den guten alten Rhythm 'n' Blues wiederaufleben. Seine größte Wirkung entfaltete der freundliche Pubrock als Wegbereiter des stacheligen Punk.

Die Plattenfirma United Artists ließ sich 1970 einen brenzligen Werbegag einfallen, um der jungen Karriere ihrer Vertrags-band Brinsley Schwarz auf die Sprünge zu helfen. Knapp 150 europäische Journalisten beförderte das Unternehmen auf eigene Kosten über den Atlantik: Die Medienleute sollten dem ersten Amerika-Auftritt der britischen Countryrock-Band im New Yorker Rocktempel Fillmore East beiwohnen und anschließend ihr Loblied in der Alten Welt anstimmen.

Die Aktion wurde ein Reinfall auf der ganzen Linie. Brinsley Schwarz schnitten bei dem in Sachen Country-rock verwöhnten US-Publikum nur mittelprächtig ab. United Artists mußte mit 70 000 Mark Auslagen ein kräftiges Loch in ihrer Spesenkasse stopfen, und das Medienecho fiel angesichts des überzüchteten Werberummels so katastrophal aus, daß sich die Band ein gutes halbes Jahr nicht mehr an die Öffentlichkeit traute.

Die Geschichte ging als eine der offensichtlichsten Industrie-Manipulationen in die Rock-Annalen ein — und als Geburtsstunde des Pubrock, dem Brinsley Schwarz im weiteren Verlauf ihrer Karriere den Weg ebneten.

Fast krampfhaft bemüht, den Fillmore-Makel abzuschütteln, mieden die Briten fortan das grelle Rampenlicht und gaben sich optisch und musikalisch so unauffällig wie möglich. Mit atmosphärisch dichten Auftritten in kleinen Clubs und Bierpinten gelang es der auf Platte glücklosen Truppe immerhin, eine eingeschworene Live-Gefolgschaft aufzubauen.

Das an amerikanischen Volksmusikformen wie Country, Folk und Rhythm 'n' Blues orientierte Musikkonzept der Brinsleys hatte Anfang der 70er Jahre noch wenig Aussicht auf Erfolg, als die künstlerischen Ansprüche, die Verstärkeranlagen und die persönlichen Eitelkeiten der Popstars unaufhaltsam in den Himmel wuchsen.

Um 1975 wuchs der Unmut über den technischen Overkill, den vor allem die satt gewordenen Artrock-Gruppen pflegten. Zahlreiche Musiker setzten ihre Kritik in die Tat um. Sie griffen zu Gitarre, Mundharmonika und Klimperklavier und entdeckten — wie schon einmal in den wilden 60er Jahren die Blues-rock-Pioniere — die verschiedensten Spielarten schwarzer US-Musik als Möglichkeit, authentischen Gefühlen freien Lauf zu lassen.

Brinsley-Bassist und -Sänger Nick Lowe hatte wieder die Nase vorn. Der begabte Songschreiber, Sessionprofi und musikalische Spaßvogel ersten Ranges stieg ins Produzentengeschäft ein und verhalf dem intelligenten Elvis Costello, der Rhythm 'n' Blues-Dampframme Dr. Feelgood und den finsteren Punkern The Damned zu ersten Meriten. Ganz nebenbei betätigte er sich noch als Mitbegründer der Formation Rockpile, die bis heute als Englands Rocktraditions-Verwahrer Nummer 1 gilt.

Lowes Rockpile-Partner Dave Edmunds hatte den Zeitgeist schon 1970 klopfen gehört. Von seiner Version der alten Bluesnummer „I Hear You Knocking" konnte er annähernd drei Millionen Exemplare verkaufen und so ein Zeichen setzen, daß sich geschmackvoll aufbereitete Klassiker der schwarzen Musik auf dem Popmarkt immer wieder durchsetzen.

Die beiden Komponisten, Produzenten und Livemusik-Routiniers scharten um Edmunds' Rockfield-Studio in Wales eine Clique von Musikern, die sich angesichts der familiären Atmosphäre, des freundlichen Umgangstons und des professionellen Image des Hauses überaus zahlreich einfanden.

Die familiäre Nestwärme, die für die Verfechter des neuen Rhythm 'n' Blues eine Selbst-verständlichkeit war, paßte zu den überschaubaren räumlichen Ausdehnungen Südenglands. Zudem fanden die Könner und Kenner, die in den Studios und Wohnzimmern die Köpfe zusammensteckten und sich über ihre Vorliebe zu Muddy Waters, Chuck Berry und den Everly Brothers verständigten, bei ihren Liveauftritten eine durchweg herzliche, enthusiastische Stimmung vor.

Es dauerte bis zum Oktober 1976, ehe die brodelnde Hitze in den Liveclubs auch in den Hitparaden Großbritanniens ein Dauerhoch für den schwitzigen, direkt aufs Tanzbein zielenden Pubrock signalisierte. Da eroberte die Club-Attraktion Dr. Feelgood mit ihrem rasanten Livemitschnitt „Stupidity" die englischen Hitparaden im Sturm.

Der Punk, selbst den vierschrötigen Pubrock-Gesellen zu großem Dank verpflichtet, hatte kräftig nachgeschoben. Die wilden Stachelköpfe sorgten nun für lautstarken Medienwirbel mit ihrer Palastrevolte an der Themse, nachdem die Blues-versessenen Clubmusiker mit ihren winzigen Anlagen und der riesigen Spielbegeisterung das Klima für eine schlagkräftige Opposition gegen die Sterilität der Supergruppen vorbereitet hatten.

Die unterschiedlichen Brüder vertrugen sich nicht schlecht. Beide Parteien produzierten ihre Platten auf kleinen, unabhängigen Labels und hegten eine tiefe Abneigung gegen Schminke, geziertes Auftreten und das große Geld.

Der beliebte Londoner Vorstadt-Club „Hope & Anchor" veranstaltete im November und Dezember 1977 eine große Konzertschau, die als „Front Row Festival" auf einem Doppelalbum festgehalten ist. Da spielen einträchtig nebeneinander die Punk-Heroen The Stranglers, 999 und XTC, Dr. Feelgood's Spitzen-gitarrist Wilko Johnson und die Rhythm 'n' Blues-Champions The Pirates, die Reggae-Truppe Steel Pulse und die Live-Kanone Steve Gibbons aus Birmingham mit seiner Band.

Stilverwirrung und offener Ideenaustausch in der Kneipenszene allerorten: Nicht nur, daß sich im „Hope & Anchor"-Aufgebot auch eine junge, enthusiastische Band findet, die später als Dire Straits mit perfekt geschneiderten, vorwiegend sanften Pop-Kunststückchen zu Weltruhm gelangte. Da gab es bei der Kultgruppe Kilburn & The High Roads einen schnoddrigen Sänger namens Ian Dury, der sich später für Rockabilly, Reggae und schrullige britische Kneipenmusik begeisterte. Sein „Sex & Drugs & Rock 'n' Roll" ging als ironische Hymne auf das zwielichtige Rockbusiness durch aller Munde.

Der schmächtige Graham Parker, ein unsteter Londoner Gelegenheitsarbeiter, fand in der Band The Rumour bewährte Profis als Begleitmusiker, die Parkers Interesse an schweißtreibendem Soul und Bob Dylans kratziger Balladentradition treffend umzusetzen wußten.

Als Ideenlieferant für wunderhübschen Miniatur-Pop mit strahlenden Melodien und einschmeichelnden Vokalsätzen profilierte sich das Quintett Squeeze, das mit dem Songschreiber-Gespann Chris Difford und Glenn Tilbrook über zwei der besten Popkomponisten Englands verfügte.

Mit den Zuckerbäckerpop-Zutaten, die den Squeeze-Songs gelegentlich beigemischt waren, hatte der erfolgsgewohnte Dr. Feelgood nichts am Hut. Er entwickelte seinen druckvollen, schnurgeraden Rhythm 'n' Blues eher in Richtung Hardrock weiter.

Unter den jungen Talenten, die das britische Label Stiff gegen Ende des Jahrzehnts förderte, stachen zwei Namen heraus: Jona Lewie, ein schüchterner Charmeur, experimentierte mit Elektronik, Barklaviermusik und kinderliedartigen Melodien. „Kitchen At Parties" und das Antikriegslied „Stop The Cavalry" brachten ihn auch in Deutschland in die Charts.

Der Musikinstrumente-Händler Mickey Jupp aus Southend hatte sich schon in den 60er Jahren in einschlägigen Rhythm 'n' Blues-Kreisen herumgetrieben, spielte mit dem „Red Boot"-Album von 1971 eine später hochbegehrte Trophäe für Raritätenjäger ein und ließ sich bei seinem 1978er Stiff-Meisterwerk „Juppanese" von so unterschiedlichen Produzenten wie Nick Lowe und Ex-Procol-Harum-Chef Gary Brooker unter die Arme greifen.

Plattenfreaks, die sich für seltene Sammlerstücke interessieren, finden im Rhythm 'n' Blues-Revival der britischen Pubrock-Szene eine unerschöpfliche Fundgrube. Wohl nur noch in der Westcoast-Strömung der späten 60er Jahre mit ihren exotischen psychedelischen Höhenflügen tauchten so viele Scheiben auf, die später mit höchstem Kurswert auf dem Raritätenmarkt kursierten.

Kein Wunder — die Briten brachten alle Voraussetzungen mit: Sie galten als honorige, sympathische Musiker mit ehrlichem Ansinnen und viel Enthusiasmus, die sich auf die unverbildeten Ur-Kräfte des Rock 'n' Roll besannen. Ihre Kunst blühte kommerziell weitgehend im verborgenen, weshalb ihre Platten sehr schnell wieder aus den Katalogen verschwanden.

Wie in einem emsigen Ameisenstaat kamen sich die Ensembles mit Sessionbeistand und Produzentenhilfestellung entgegen. Folglich gibt es kaum einen Rocktrend, bei dem die Lektüre von Gruppen-Stammbäumen und Besetzungsangaben auf Cover-rückseiten derart viel Spaß macht. 1983 erschien beispielsweise die feine Platte „Suburban Voodoo" des Pianisten Paul Carrack. Der Ex-Ace-Sänger, der Squeeze für den Song „Tempted" seine Stimme lieh, gewann Nick Lowe als Produzent und Rumour- und Ducks-Deluxe-Veteran Martin Belmont als Gitarrist.

Wer nach Platten von Nine Below Zero, Pirates, Lew Lewis Reformer, Bontemps Roulez, Kursaal Flyers, No Dice, Any Trouble und Bishops stöbert, wird dabei auch auf ein paar ältere Namen stoßen, die in den hitzigen Blues-Boom-Tagen der Sechziger schon einmal vor dem Mikrophon standen und sich durch die Begeisterung der Jungen zu neuen Taten ermuntert fühlten.

Ex-Manfred-Mann-Sänger Paul Jones scharte alte Club-Kameraden zum Blues-Feuerwerk „The Blues Band" um sich. Die 60er-Jahre-Kultband Downliner's Sect trat wieder in Pubs wie dem Nordlondoner „Dingswalls" auf. Der zottelige singende Sozialarbeiter Kevin Coyne fand für seine spröden Balladen ein aufnahmebereites Publikum, und Dave Edmunds unterstützte die betagte, Rhythm 'n' Blues-treue San-Francisco-Band Flamin' Groovies bei ihren Comebackversuchen.

Einige Pubrock-Wirbelwinde machen bis heute weiter, so das unverwüstliche Gespann Lowe/Edmunds, ein gemäßigter Graham Parker und der oft verhärmt wirkende Sonnenbrillenträger Elvis Costello, der als Songschreiber-Spezialist für feinfühlige Konturen längst den Aufstieg zur Weltspitze geschafft hat. Parker und Costello finden in den USA zunehmend Anerkennung.

Der Pubrock in seinem harten Kern blieb dagegen ein auf Großbritannien begrenztes Phänomen. Die Clubbands im Mutterland des Rock 'n' Roll experimentierten mit neueren Spielarten schwarzer Musik — sie waren mit der Aversion vieler Farbiger in Nordamerika konfrontiert, die den Blues als Symbol ihrer früheren Unterdrükkung mieden.

In Good Old England lief der grelle Punk bald den soliden Pubrockern den Rang ab —und das nicht nur optisch und in der sozialen Sprengkraft. Die musikalischen Grundmuster des Punk, obwohl vordergründig primitiv, erwiesen sich als wesentlich bessere Startrampe für neue Ideen als der Rhythm 'n' Blues, dessen harmonisches und melodisches Spektrum begrenzt schien und zudem auf Platte nie so recht zündete.

Der Punk wurde zum Auslöser einer weltweiten Jugendrevolte, deren Auswirkungen heute noch spürbar sind. Der Pubrock half kurzfristig, Dampf abzulassen — eine Vitaminspritze, die dem Rockbusiness immer wieder mal gutgetan hat, besonders Mitte der 70er Jahre, als die Popmusik mit Hilfe einiger hochgepeppelter Monster-gruppen zum gewinnträchtigsten Sektor der Unterhaltungsindustrie avancierte —noch vor dem Sport.

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Tags: Brinsley SchwarzNick LoweDave EdmundsRockpileGraham ParkerDr. FeelgoodThe Damned

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Stereoplay, December 1984


Matthias Inhoffen traces the history of pub rock.

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Elvis Costello photo by Anton Corbijn.Elvis Costello photo by Anton Corbijn.
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Nick Lowe - photographer unknown. Rockpile - photographer unknown.


Photo by Anton Corbijn.
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Cover.
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