Bieler Tagblatt, September 21, 2013

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Elvis Costello

Der zornige Eigenbrötler


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   Hanspeter Künzler

Elvis Costello Wenn es im Werk von Elvis Costello einen roten Faden gibt, dann ist es die Suche nach neuen Spielgenossen für seine markante Stimme. Nun vereint er den politischen Zorn mit dem Hip-Hop.

Zorn kann auch mit Samtpfoten daherkommen. Das bewies Elvis Costello schon mit seinem Debüt-Album "My Aim is True". Rundum tobte das Fegefeuer der Punks, er aber suchte sich zur Begleitung ausgerechnet die amerikanische Band Clover aus, die sich einem Musikstil - Country-Rock - verschrieben hatte, der gemäss Zeitgeist mindestens so verpönt war wie Saurier-Rock.

Dass ihn die Punks dennoch herzhaft in die Arme schlossen, war seinen bösen Texten zu verdanken, dazu seinem ganz auf Konfrontation eingestellten Auftreten. Eine ähnlich trotzige Haltung hat seither auch seinen musikalischen Werdegang geführt. Immer wieder hat sich Costello mit scheinbar artfremden Künstlern zusammengetan, um sein künstlerisches Glück an völlig neuen Stilkombinationen zu versuchen (vgl. Infobox). Paul McCartney, das Brodsky Quartet, die Operndiva Anne Sophie von Otter, die soeben verstorbene Jazz-Pianistin Marianne McPartland, Allen Toussaint aus New Orleans, Green Day, Burt Bacharach und einmal sogar mit dem englischen Pop-Sternchen Wendy James - mit allen hat Elvis Costello Bühne, Aufnahmestudio oder Schreibfeder geteilt.

"Cadavre Exquis" im Studio
Auch auf seinem neuesten Album präsentiert er eine kühne Kombination von scheinbar unvereinbaren Welten. "Wise Up Ghost" ist in Zusammenarbeit mit der jazzig angehauchten Hip-Hop-Band The Roots entstanden. Und siehe da - aus der Kombination von Costellos rechtschaffen zornigem Gesang, dem beinharten Getrommel von Roots-Kopf Amir Questlove Thompson und einer spröden, dennoch luftigen Begleitmusik, die vorwärts getrieben wird von einem keine Widerrede duldenden Bass, ist das vitalste Costello-Album seit Jahren entstanden.

"Ich habe eine Menge Alben gemacht in meinem Leben und war zufrieden", erklärt er ein paar Tage vor seinem 59. Geburtstag in London. Costello spricht, wie er singt: In passionierten Wortschwällen, deren Essenz sich manchmal erst im Nachhinein herauskristallisiert. Eines Tages sei er in die Talk-Show von Jimmy Fallon auf NBC eingeladen worden, erzählt er. Dort walten The Roots als Hausband. "Sie überraschten mich mit einem völlig neuen Arrangement für mein altes Lied ‹High Fidelity›. Und dann machten wir einfach weiter. Ein Song, dann vier, und auf einmal waren es 15 oder gar 20."

Die Arbeitsweise habe dem Spiel "Cadavre Exquis" geglichen, das einst die Surrealisten erfanden: Mehrere Spieler fertigen eine Zeichnung an, wobei jeder nach seinem Beitrag das Blatt faltet, so dass der nachfolgende Zeichner nicht weiss, was vor ihm passiert ist. Darum ist bei jedem Songtitel ein Wort mit Grossbuchstaben geschrieben: Es ist das Wort, das auf den Files stand, die sich die Musiker hin und her schoben. "Unglaublich, welch tolle Arbeit Amir und seine Leute leisten", schwärmt Costello. "Und dies in einer Kabüse, die kaum grösser ist als das Badezimmer in diesem Hotel."

Mehr Platz als gewohnt
Drei musikalische Elemente greifen auf "Wise Up Ghost" ineinander. Auf der einen Seite sind da die bösen und bissigen Texte. Dazu kommen die gewohnt feinen Gesangsmelodien und die spröde, ungemein dynamische Rhythmik der Roots. "Ich hatte als Sänger in diesem Kontext viel mehr Platz, als ich mir das gewohnt bin", erklärt Costello. "Das kam meinem Gesangsstil sehr entgegen. Ich bin - ohne dass ich gern Selbstlob verteilen würde - ein recht virtuoser, rhythmischer Sänger. Es fehlt mir wohl der feine Ton eines Tony Bennett, dafür habe ich ein Gefühl für verbalen Rhythmus. In diesem Punkt liegt mein Stil sehr nahe beim Hip-Hop - auch wenn ich mich natürlich nie als Rapper bezeichnen würde." Er selber habe diese These noch nirgends gelesen, so könne er geradeso gut selber der Erste sein, der sie vertrete: "In diesem Sinne gehöre ich in die Tradition von Chuck Berry und Bob Dylan. Sehr rhythmisch, viele Silben, und doch Gesang, nicht Deklamation." Er wisse sehr wohl, dass es Leute gebe, die meinten, seine Texte seien zu lang und zu wortreich: "Aber das kann es doch gar nicht geben, zu viele Worte! Es ist dasselbe, wie wenn einer zu John Coltrane sagt: ‹He, Du spielst viel zu viele Töne.›"

Die Erde auf Thatchers Grab
Das Timing des Albums, einige Monate nach dem Tod von Margaret Thatcher, ist ebenso interessant wie die Tatsache, dass Costello in den Texten von "Wise Up Ghost" wiederholt seine alten Lieder zitiert. "Ich wollte Gedanken in einen neuen Zusammenhang stellen. Viele Vorgänge, über die ich in den 80er-Jahren gesungen habe, bestehen heute noch." "Refused to be Saved" zum Beispiel habe er während der Invasion von Panama geschrieben: "Nun sieht man, wie in Irak und Afghanistan die gleichen Fehler begangen wurden."

Der Tod von Margaret Thatcher - er wolle auf ihrem Grab die Erde feststampfen, sang er anno 1989 - hätten gegensätzliche Gefühle erweckt. Einerseits habe ihn der Tod und das, was rundum gesagt wurde, an die üblen Konsequenzen ihrer Regierungszeit erinnert; darum auch habe er das Stück wieder ins Live-Programm aufgenommen: "Vieles in Grossbritannien, was in den 70er-Jahren noch dem Staat, der Gemeinschaft gehörte, haben sie unter unserer Nase verhökert und verscherbelt - ins Ausland, an irgendwelche Oligarchen und gesichtslose Konzerne. Und das Land wird noch immer von den gleichen Schweinen regiert."

Andererseits habe er vor 18 Monaten seinen Vater verloren, der wie Tatcher an Demenz litt: "So weiss ich, wie elend das ist. Ich möchte es meinem übelsten Feind nicht wünschen." Elvis Costello und sein Vater standen sich nahe - Ross McManus war Sänger in der Band von Joe Loss, die wie James Last die Hits des Tages im Big Band-Stil vortrug und zur englischen Radiolandschaft gehörte wie draussen der Regen. Schon als 10-Jähriger war Elvis Costello - er hiess damals noch Declan MacManus - fast immer dabei, wenn der Vater für die wöchentliche TV-Aufnahme probte.

In dieser Vergangenheit liegt auch eine Gemeinsamkeit mit Questlove Thompson: "Beide unsere Väter waren Sänger. Wir wuchsen in einer Umgebung auf, wo Musik gleichzeitig eine Passion und ein Brotverdienst war. Ich war mir sehr früh bewusst, was es heisst, eine Brücke zu schlagen zwischen Leidenschaft und der Notwendigkeit, den Lebensunterhalt zu verdienen." Von daher rührt auch sein Appetit auf musikalische Abenteuer. "Es gibt Leute, die meinen, ich solle das Herumblödeln vergessen und bloss noch Platten machen, die tönen wie ich. Dabei ist Musik ein einziges, wunderbares Abenteuer. All dieses Geschwätz von Mar- kenidentität ist doch Nonsens. Es kommt nur darauf an, dass man Lieder singt, die einem etwas bedeuten.»

INFO: Elvis Costello & The Roots, "Wise Up Ghost" (Blue Note/Universal).

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Bieler Tagblatt, September 21, 2013


Hanspeter Künzler reviews Wise Up Ghost.


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