Neue Zürcher Zeitung, October 4, 2023

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Elvis Costello brilliert in Rollenspielen: Er gibt den Stalker, der von der Liebe singt und seine Umklammerung mit einer Umarmung verwechselt


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   Jean-Martin Büttner

Er scheint vollständig genesen zu sein, so wie er auf die Bühne des KKL tänzelt, der Mann mit dem forschen Charakter. Und der Songschreiber, der uns seine Lieder beschreibt, bevor er in die Gitarre greift.

Seine Energie hat er sich erhalten, auch mit seinen 69 Jahren und nach einer Krebserkrankung, ein aggressiver Tumor musste entfernt werden. Er scheint vollständig genesen zu sein, so wie er auf die Bühne des KKL tänzelt, der Mann mit dem forschen Charakter. Und der Songschreiber, der uns seine Lieder beschreibt, bevor er in die Gitarre greift.

Elvis Costello, der Londoner irischer Abstammung, hat so viel gemacht: als Singer-Songwriter, Arrangeur, klassischer Komponist, Produzent, Autobiograf, Fernsehmoderator und Live-Künstler. Fast 40 Alben hat er mit seinen Bands oder mit anderen Musikern publiziert. "Ich habe über 500 Lieder geschrieben", so warnt er uns in Luzern, "und ich werde sie euch alle vorspielen."

200 Songs an 10 Abenden
Das klingt abwegiger, als es ist. Man muss bloss an die 10 Konzerte erinnern, die Elvis Costello und seine Band im New Yorker Gramercy Theatre spielten, das war im Februar. An diesen 10 Abenden brannte er auf der Bühne 200 Songs ab.

Luzern lädt zum letzten Auftritt der laufenden Europatour von Elvis Costello und Steve Nieve, seinem begleitenden Pianisten. Den beiden ist die Freude über das Heimgehen ebenso anzumerken wie die noch grössere Freude, in einem akustisch perfekten Raum spielen zu können. Als wolle sich der Sänger über die Qualität des Saales persönlich vergewissern, singt er das letzte Stück ohne Mikrofon, und alle hören ihn. Und verabschieden ihn mit einer Ovation.

Ein fast siebzig Jahre alter Songschreiber mit Gitarre, dazu ein Pianist am Flügel, beide vor gesetztem Publikum in einem klassischen Konzertsaal: War da nicht ein Wohlfühlprogramm zu erwarten, eine musikalische Narkose für die Rentnergeneration? Wer das tat, hatte den Mann noch nie spielen gehört.

Rache und Schuld, seine Motive
Denn an seinen Konzerten betreibt der Musiker das Gegenteil, auch an diesem Abend. Elvis Costello jagt uns durch die Höhen und Tiefen seiner Gefühle, besingt Liebesglück und Verzweiflung, Begehren und Einsamkeit. "Revenge and guilt" nannte er einmal als Motive seiner Arbeit, Rache und Schuld. Und von solchen strengen Gefühlen handeln auch viele der Stücke, die Costello mit seiner rohen Stimme vorträgt.

Eine schöne Stimme hatte er nie, so wie auch Bob Dylan, Tom Waits oder Nick Cave über keine technisch schöne Stimme verfügen. Ihr Gesang lebt vom Ausdruck, von der Phrasierung und der Unverkennbarkeit. Costello kennt seine technischen Grenzen selber, wie man von ihm im Gespräch erfahren hat: "Ich weiss, dass meine Stimme unausstehlich klingen kann, wenn sie nicht von der richtigen Begleitung gestützt wird."

Dass der Luzerner Auftritt zwischendurch durchhängt, hat nichts mit seiner Stimme zu tun, sondern mit dem Material, das er an diesem Abend vorträgt. Denn manche der neueren Stücke wie "Country Darkness" oder "Unwanted Number" fallen ab, ihre Melodien klingen beliebig oder gestelzt. Der manische Hang des Musikers zu unablässigen Veröffentlichungen hat ihm geschadet. Noch eine Platte presste er zwischen der vorherigen und der nächsten, noch drei Strophen hängte er einem Song an, noch eine CD mit unveröffentlichten Versionen schob er nach. Das war zu viel des nicht so Guten.

Darum bleibt einem von seinen letzten Platten nicht viel hängen. Das merkt man den neuen Stücken auch deshalb an, weil die älteren Songs so viel besser funktionieren, drängender klingen, einen so viel stärker ansprechen.

Heiser gewisperte Zeilen
Da ist "When I Was Cruel" von 2002, als Costello sein letztes überragendes Album veröffentlichte, und mit ihm beginnt er das Konzert. Da ist "Watching the Detectives", seine erste Erfolgssingle mit ihrem lasziven Reggae-Beat. Am Konzert spielt er sie in einer zerdehnten, fast abgerissenen Version und kostet jede Zeile aus.

Und da ist "I Want You", das er gegen Ende singt und das zum Höhepunkt des Abends gerät. Das Stück klingt wie das Bekenntnis eines Besessenen, der doch ein Liebeslied anstimmen möchte; der seine Umklammerungen für eine Umarmung hält und seinen Besitzanspruch für ein Angebot; und der nicht merkt, dass er sich vom Freund zum Stalker fanatisiert hat.

"Eifersucht", hat Max Frisch geschrieben: "die Angst vor dem Vergleich". Diese Angst steigert sich in Costellos Lied zu einer flackernden Paranoia, ausgedrückt in heiser gewisperten Zeilen wie "I want you, I want to know the things you did that we do too / I want to hear he pleases you more than I do / I might as well be useless for all it means to you." Er will sie und bekommt sie nicht. Er hat alles verloren, weil er sie nicht mehr gewinnt. Elvis Costello ist der Chronist des Verlustes.


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Neue Zürcher Zeitung, October 4, 2023


Jean-Martin Büttner reviews Elvis Costello and Steve Nieve on Tuesday, October 3, 2023, KKL Konzertsaal, Lucerne, Switzerland.

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Photo credit: ABACA/Imago

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